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»Integrative Medizin« – die Kolonialisierung des Anderen und die Notwendigkeit des ganz Anderen


Harald Walach – Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O., Deutschland
Artikel aus «Forschende Komplementärmedizin» / Februar 2010 im Karger Verlag
 

Neuerdings ist «Integrative Medizin» modern. Vor Jahren hatte man sich bei der Gründung des National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) am National Institute of Health (NIH) in den USA auf «CAM – Complementary and Alternative Medicine» geeinigt. Nun tauchen überall die «integrativen» Korrekturen auf: medizinische Zentren, Zeitschriften, Forschungsgruppen nennen sich nun lieber «integrativ» als «komplementär-» oder «alternativmedizinisch», vor allem in den USA, aber auch zunehmend bei uns in Europa.
Die Argumentationsstruktur hierfür scheint logisch, vernünftig und überzeugend: Man nehme das aus der alternativ-komplementärmedizinischen Ecke, was sich im Sinne der «evidence-based medicine» als wirksam und brauchbar erwiesen hat, stelle den Patienten und seine Anliegen
in den Mittelpunkt («patient-centred care»), mische das in die vorhandene «beste Praxis», die sich aus der Richtlinienkultur einer unübersichtlich gewordenen Versorgungslandschaft ergibt, rühre so lange um, bis es sich gut gemischt hat und – Zauber, Zauber – man hat Integrative Medizin geschaffen.
Das ist nun eine etwas saloppe Umschreibung dessen, wie die Internetseite des NCCAM und verschiedene Mission-Statements von Akademischen Zentren und Zeitschriften ihre Aufgabe darstellen. Wollen wir einmal – nur fünf Minuten – sorgfältig nachdenken, was hier genau passiert.

Fangen wir an mit einer Metapher: Was geschieht wenn man gelbe, blaue und rote Farbe mischt? Jedes Kind weiß: Man erhält Braun. «Sophisterei», werden mir die Vertreter der Integrativen Medizin entgegenhalten, «wir mischen nicht
Farben, sondern verbinden Konzepte!» Welche Konzepte?

Erstens: Evidenz

Das überstrapazierte Wort «evidence» wird praktisch immer falsch mit «Evidenz» übersetzt. Das englische «evidence» heißt «Beweis, Beleg», während das deutsche «Evidenz» soviel wie Augenfälligkeit, Klarheit heißt – etwas, das eben genau nicht des Beweises bedarf, weil es auch ohne Beweis klar ist. «Evidence Based Medicine (EBM)» meint eigentlich eine Medizin, die sich auf empirische Belege stützt – «wissenschaftlich gestützte Medizin» wäre meines Erachtens eine korrekte und gute Übersetzung –, und eben gerade nicht auf Augenfälligkeit. Die Vertreter der EBM verstehen darunter die Beantwortung der Frage, wie man die wissenschaftliche Beweislage auf den Einzelfall anwenden kann. Das ist eine schwere, wenn nicht gar in sich widersprüchliche Aufgabe. Denn die wissenschaftliche Beweislage, wie sie im Moment von der Mehrheit verstanden wird, bezieht sich fast immer auf Mittelwertsunterschiede als Ergebnis klinischer Studien, die, im Idealfall und in sehr großen Studien, mit einem sehr engen Konfidenzintervall angegeben werden können.

Aber sie sind dennoch Unterschiede der Mittelwerte. Dahinter verbergen sich fast immer große Streuungen. (Diese sind gerade nicht mit Konfidenzintervallen zu verwechseln; denn die Streuung ist ein eigenständiger statistischer Parameter, der eben genau nicht durch eine Vergrößerung der Stichprobe verändert wird. Das einzige, was durch eine große Stichprobe verändert wird, ist die Präzision der Schätzung von Mittelwert und Streuung. Aber ein signifikanter Unterschied im Mittelwert heißt eben nur, dass eine behandelte von einer anders behandelten Gruppe im Durchschnitt abweicht.) Was der Mehrheit der Patienten nützt, kann sehr wenigen äußerst gefährlich werden oder für eine große Minderheit unbrauchbar sein. Sogar ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des IQWiG, des Instituts für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, hat vor einiger Zeit in einem Gespräch mit mir, in Unkenntnis grundlegender statistischer Gegebenheiten behauptet, große Studien würden aufgrund ihrer kleinen Konfidenzintervalle sichere Angaben für den Einzelnen zulassen. Tun sie nicht. Sie lassen höchstens sichere Auskünfte für dendurchschnittlichen Patienten zu, den es ja bekanntermaßen so nicht gibt.

Das vorherrschende Forschungsparadigma kann sein Versprechen, wissenschaftlich fundierte Aussagen für den Einzelfall vorzulegen [1], nur dann einlösen, wenn es das implizite Dogma vom Alleinseligmachungsanspruch der randomisierten Studie verlässt. Die hellen Köpfe in der EBMSzene arbeiten daran bereits, aber der Durchschnittsarzt, Durchschnittswissenschaftler, Durschnittsregulator versteht EBM allemal noch anders. Insofern hieße dann «integrative medicine», das aus der Komplementärmedizin zu übernehmen, was durch die Mühle der kontrollierten Studie getrieben wurde und Bestand hatte. Das ist nicht falsch, aber auch nicht sonderlich klug. Denn dabei bleibt nur Erkenntnis über die minimal möglichen Effekte einer Therapie in einer großen Gruppe von Personen im Durchschnitt als Erkenntnis übrig. Und dies ist eine relativ langweilige Erkenntnis.

Zweitens: Patientenzentrierte Versorgung

Patientenzentrierte Versorgung klingt gut. Das wollen alle. Aber genau sie bedarf eines anderen Grundansatzes als dessen, den das herrschende Paradigma anbietet. Es versucht aus vermeintlich allgemeingültigen Erkenntnissen Aussagen über die Therapie im Einzelfall abzuleiten. Prominentes Beispiel: Weil man zu wissen meint, dass bei Depressionen Serotonin nicht immer so wie nötig im Gehirn verfügbar ist, versucht man, es über verschiedene Maßnahmen bereitzustellen. Das funktioniert bei einer erklecklichen Zahl von Patienten. Bei sehr vielen funktioniert es aber überhaupt nicht. Und bei einer nicht unerheblichen Zahl funktioniert es nur mit deutlichen Nebenwirkungen [2]. Eine patientenzentrierte Versorgung würde eben genau nicht vom Wissen über allgemeine Zusammenhänge ausgehen, die dann auf den Einzelfall zurechtgestutzt werden, sondern sie würde radikal beim Patienten ansetzen. In diesem Falle «wissen» wir zunächst eben gar nichts, sondern die Patientin ist Expertin ihrer Krankheit. 

Dann kann eine Depression im einen Falle vielleicht wirklich eine Serotoninmangelstörung sein; im anderen Falle Resultat einer Fehlernährung, auf einen Mangel an Omega-3-Fettsäuren zurückzuführen und entsprechend leicht mit diätetischen Maßnahmen behebbar sein; in wieder einem anderen Falle vielleicht Ergebnis einer toxischen Überlastung; oder Ausdruck einer tiefen existenziell-spirituellen Krise, die überhaupt nicht medizinisch anzugehen ist; oder vielleicht sogar einer sozial-politischen Konstellation von Armut und Machtlosigkeit geschuldet, deren Lösung nur sozial erfolgen kann; und so weiter.

Patientenzentrierte Versorgung bedeutet zunächst genau das Beiseitelegen von vermeintlich gültigem Wissen, um den Patienten als Individuum zu sehen und zu Wort kommen zu lassen. Dies ist ein Vorgehen, das im Rahmen der Komplementärmedizin eigentlich üblich, aber dem konventionellen Ansatz nicht oder weniger geläufig ist. Patienten suchen Komplementärmedizin eben genau, weil sie sich mit ihren individuellen Anliegen bei konventionellen Ärzten nicht gesehen fühlen, das haben uns viele Studien gezeigt.

Sie wollen, dass ihre seelische Situation berücksichtigt wird, dass man verschiedene Ebenen ihres Daseins bei der Behandlung mit einbezieht und eben genau nicht kompartimentiert. Anhänger des integrativen Ansatzes werden mir jetzt entgegenhalten, dass Patienten eigentlich genau die Kombination aus konventionell-medizinischem Wissen und komplementärer Heilkunst wollen. Daher sei das Integrative die Antwort. Mir scheint, dies ist eine Fehlinterpretation. Patienten wollen eine individuelle, ganzheitliche Versorgung, bei der nichts übersehen wird, bei der also gute Diagnostik, wie sie uns die konventionelle Medizin anbietet, und ganzheitliche Behandlung, wie sie Standard bei der Komplementärmedizin sein sollte, zusammengehören. Ob jemand, der durch die derzeit übliche medizinische Ausbildung gegangen ist, überhaupt noch ganzheitlich denken, geschweige denn handeln kann ohne extensive Weiter-oder Rückbildung seiner «déformation professionnelle», das sei einmal ganz dahingestellt.

Drittens: Integration

Integration bedeutet im Normalfall, dass zwei oder mehrere miteinander kompatible Methoden, Gedanken oder Theorien verbunden werden. Nur wenige komplementärmedizinische Modelle lassen sich auf der gleichen Ebene mit der konventionellen Denk- und Handlungsweise verbinden. Das implizite Maschinenparadigma, das seit Descartes die Medizin be-herrscht, hat uns sehr gute Einsichten beschert, was die Funktionsweise des Körpers angeht. Seine umgekehrte Anwendung zur Behandlung von Störungen ist jedoch nur begrenzt erfolgreich. Zweifelsohne ist es sehr erfolgreich in der Akutversorgung, in der Notfallmedizin, Chirurgie und Hygiene. In anderen Bereichen, vor allem wenn es um chronisch funktionelle Störungen oder chronisch degenerative Erkrankungen geht, beeindruckt mich der sogenannte «medizinische Fort-chritt» nicht im Geringsten. Da könnte vermutlich die konventionelle Medizin mehr von den traditionellen Medizinsystemen lernen als umgekehrt. Wenn nun von «Integration» die Rede ist, so ist in aller Regel gemeint, dass man Methoden aus der Komplementärmedizin übernimmt, aber den paradigmatischen Rahmen der konventionellen Medizin selbstredend unverändert lässt. Und genau dies ist der Streitpunkt. CAM ist mehr als Methode. CAM ist auch paradigmatisches Anderssein, theoretische Provokation, Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Geltenden.

Bei Licht betrachtet scheint mir Integrative Medizin eigentlich ein verkappter Kolonialisierungsversuch zu sein. Das Andere, das Widerständige soll «integriert» und damit gezähmt werden. Durchs Zähmen wird es handhabbar. Die Fremdheit, das Wilde wird assimiliert und damit der vorherrschenden Denkschule einverleibt. Damit wird das eigentlich zum Widerspruch Reizende, das, was so fremd ist, dass man innehalten muss, banalisiert.

Die gesellschaftlich-wissenschaftliche Funktion der Komplementärmedizin ist hingegen genau diejenige, immer das je Andere, und auch das noch ganz Andere der konventionellen Medizin zu sein. Nur so übt sie jenen Druck aus, der die vorherrschenden Konzepte  zur Reflexion und die gängige Praxis zur Revision drängt. Eine Medizin ohne das Andere ist wie jede menschliche Praxis ohne Widerpart nicht nur langweilig, sondern zum inneren Tod verurteilt.

Das je Andere, ganz Andere zwingt zur Auseinandersetzung. Diese ist Motor der Veränderung und des Wachsens. Der Integrative Ansatz lullt uns ein wie die Mischung aus Glühwein, Plätzchen und «Stille Nacht» auf dem Weihnachtsmarkt. Die Welt scheint heil, das Christkind ist gut, die Familie ist lieb, der Weihnachtsmann fliegt auf einem Schlitten durch die Nacht und bringt Geschenke, und bei all der Idylle übersehen wir die Unbehausten, die in dunklen Hauseingängen frieren. Die Welt der Integrativen Medizin, so scheint mir, ist nicht eine bessere, sondern eine illusorisch bessere Welt. Denn sie hat sich genau desjenigen enthoben, das uns ein Stachel ist, besser zu verstehen, besser zuhandeln, überhaupt besser zu werden: des ganz Anderen.

Literatur
[1] Walach H, Falkenberg T, Fonnebo V, Lewith G, Jonas W: Circular instead of hierarchical – methodological principles for the evaluation of complex interventions. BMC Med Res Methodol 2006;6:29.
[2] Fava GA, Tomba E, Grandi S: The road to recovery from depression – don’t drive today with yesterday’s map. Psychother Psychosom 2007;76:260–265.