Editoral der Zeitschrift für Phytotherapie 3/12
von Prof. Dr. Bernhard Uehlecke
Seit Jahrzehnten wird immer wieder diskutiert, inwieweit Phytotherapie ein Teil der modernen wissenschaftlichen Medizin ist oder vielleicht doch eher zu den komplementärmedizinischen Außenseitern gehört. Als Mitglied des erweiterten Vorstands der Gesellschaft für Phytotherapie und der Kommission E konnte ich vieles hautnah erleben und habe durchaus einige Angriffe gegen die Phytotherapie zurückweisen können. Aber als Grenzgänger zwischen den verschiedenen Welten von »Schulmedizin« und pharmazeutischer Medizin, Naturheilkunde und Alternativmedizin, Balneologie und Physikalischer Medizin, Industrie und Hochschule möchte ich einige allgemeine Überlegungen zur Einordnung der Phytotherapie vorstellen und zur Reflexion anregen.
Die letzten zwei Jahrzehnte war der Vorstand der Gesellschaft für Phytotherapie besonders bemüht, auf die Wissenschaftlichkeit der Phytotherapie hinzuweisen und mit einem hochgeachteten Wissenschaftler der Medizin an der Spitze war dies auch nicht unlogisch. Freilich haben unsere Kritiker die Phytotherapie und die Wissenschaftlichkeit immer wieder angezweifelt. Ferner hat das Streben nach Wissenschaftlichkeit zu spiralförmigen Entwicklungen der Ansprüche in der Zulassung geführt und zu einem Kahlschlag der ehemals doch recht weitläufigen und bunten Landschaft mit einer Vielfalt an Phytotherapeutika. Auch dies konnte Angriffe und Vorwürfe bis heute nicht verhindern, die Zulassungsbedingungen im Bereich Phytotherapie als einer der Besonderen Therapierichtungen seien doch zu niedrig: Zulassungen würden erteilt ohne ausreichenden Wirksamkeitsbeleg - im Gegensatz zu den »richtigen« Arzneimitteln.
Wenn man hingegen in die andere Welt der alternativen und komplementären Medizin (CAM) eintaucht, so besteht dort überhaupt kein Zweifel, dass Phytotherapie genauso wie andere »natural products« zur CAM gehören und dort sogar eine relativ wichtige Rolle spielen, wie Zahlen zur Prävalenz der einzelnen CAM-Verfahren eindeutig belegen. Wer dies aus deutscher Sicht nicht gut findet, darf sich ruhig einmal die geschichtliche Entwicklung anschauen und klarmachen, dass pflanzliche Volksheilmittel im deutschen Sprachraum seit über 100 Jahren wesentlichen Auftrieb durch die Förderung entsprechender prominente Naturheilkundler wie den Wasserdoktor und Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp bekommen. Natürlich spielen auch Drogerien, Reformhäuser und Apotheken als Beratungs-und Verkaufsstellen eine wichtige Rolle für die Phytotherapie - aber der Einfluss von Heilpraktikern und naturheilkundlich weitergebildeten und interessierten Ärzten ist dennoch nicht zu unterschätzen.
Diese andere Welt der Komplementärmedizin präsentiert sich heute sehr international und zeigt eine beeindruckende Entwicklung (auch wenn die Terminologie zwischen »Complementary and Alternative Medicine« von den USA ausgehend und »Traditional Medicine« von der WHO ausgehend verwirrend und unklar bleibt). In den USA wird die Forschung auf diesem Gebiet staatlicherseits in beneidenswertem Umfang gefördert und das macht sich auch für unsere Phytotherapie bemerkbar: Aus den USA stammen neue aussagefähige klinischen Studien über Phytotherapeutika mit großen Patientenzahlen. Aber auch in Kanada, Indien und China sowie zahlreichen weiteren außereuropäischen Staaten wird die Komplementärmedizin und deren Erforschung staatlicherseits gefördert. Unbeeindruckt von überentwickelten regulatorischen Vorschriften wird dort darüber reflektiert, welche Forschung für »natural products« sinnvoll und notwendig ist. Und selten führen deren Überlegungen (die unbeeinflusst von der deutschsprachigen Literatur sind) zu wirklich neuen Ansätzen über die pragmatische Arbeit einer Kommission E hinaus. Aber schon der griffige Name »reverse pharmacology« mag ein gewisser Fortschritt sein, um Grundsatzdiskussionen zu erleichtern und vertretbare Regeln zu begründen.
In nicht-westlichen Kulturen ist freilich die medizinische Anwendung von Heilpflanzen eingebunden in eigene traditionelle Medizinsysteme wie TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) oder Ayurveda, woraus sich Besonderheiten der Nosologie und Vorstellungen zum Wirkmechanismus ergeben. Vielleicht hängen die Attraktivität und der Charme chinesischer und indischer Kräutermischungen genau damit zusammen. In europäischen Ländern wird ein solcher Bezug erst einmal nicht hergestellt. Man müsste dazu die Frage beantworten, auf welches noch vorhandene traditionelle System oder auf welches komplementärmedizinische Verfahren man sich im Westen beziehen würde. Während in Deutschland die Naturheilkunde im engeren Sinne Phytotherapie als eines der klassischen Naturheilverfahren (oder auch als eine der 5 Säulen der Naturheilkunde nach Kneipp) umfasst, ist eben diese Naturheilkunde in anderen Ländern noch unklarer positioniert und definiert und der Bezug zur Phytotherapie bleibt dann noch unklarer. Bereits in unseren unmittelbaren Nachbarländern besteht eine große Variation in Terminologie, Regelung und Angebot bezüglich Komplementärmedizin und Naturheilkunde - wie das gerade laufende EU-FP7-Projekt »CAMbrella« aufzeigt (www.cambrella.eu).
Es sind demnach nicht nur unterschiedliche regulatorische Anforderungen, die zu höchst unterschiedlichem Verständnis der Phytotherapie in den Weltregionen führen. Neben asiatischen Interpretationen der Phytotherapie sollte es dann aber mindestens eine westliche bzw. europäische Phytotherapie geben - wobei man allerdings in Zeiten der Globalisierung eine zu weitgehende regionale »Zerstückelung« bis hin zu einer deutsch(sprachig)en Phytotherapie vermeiden möchte. Offen bleibt dabei jeweils, ob man sich in den Diskurs bezüglich traditioneller Medizinsysteme begeben möchte - dies würde analog zu den traditionellen asiatischen Medizinsystemen für die europäische Phytotherapie die Beschäftigung mit und Interpretation der Humoralpathologie implizieren. Man könnte sich aber auch auf die moderne Entwicklung der europäischen Phytotherapie beschränken, die sich auf pharmakologische Plausibilität und/oder klinische Wirksamkeitsnachweise stützt.
Egal wie weit man die Diversifizierung der Phytotherapie treiben möchte, für uns stellt sich die Entscheidung: Wollen wir unsere europäische (deutsche oder westliche) Phytotherapie eher über die Wissenschaft (Pharmazie, Pharmakologie, Medizin) definieren, so umfasst man nur den »rationalen Teil« und grenzt den traditionellen Teil aus. Dennoch wird sich dabei nicht verhindern lassen, dass auch eine noch so rationale Phytotherapie weiterhin kritisiert und ausgegrenzt wird. Eine Anbindung an den CAM-Bereich hingegen schließt eine wissenschaftliche Betrachtung und Behandlung der Phytotherapie nicht aus, berücksichtigt aber eben auch die traditionellen Bereiche. Denjenigen, die sich bislang an den unübersichtlich erscheinenden Bereichen einer Naturheilkunde und Komplementärmedizin gestört haben, käme vielleicht die neuere Entwicklung einer Traditionellen Europäischen Medizin bzw. der Traditionellen Europäischen Naturheilverfahren entgegen. Dann wäre nämlich die Parallele zu den asiatischen Systemen sofort begrifflich und konzeptionell klar: Europäische Phytotherapie ist (auch) ein Teil der Traditionellen Europäischen Medizin, die sich einerseits zur wissenschaftlichen Hightech-Medizin fortentwickelt hat, aber anderseits - von weiten Bevölkerungsschichten gestützt - als Teil der Komplementärmedizin halten konnte. Was hindert uns daran, diese Anbindung aktiv zu betreiben?
Den Zauderern sei gesagt, dass den beiden anderen Besonderen Therapierichtungen Homöopathie und Anthroposophie ihre eindeutige Anbindung zur Komplementärmedizin in den letzten Jahrzehnten anscheinend wenig geschadet, sondern eher genutzt hat. Als Medizinkonzepte erfreuen sich diese Verfahren nämlich einer politischen Lobby und einer breiten Unterstützung seitens der europäischen Bevölkerung, die für eine rationale Phytotherapie so niemals zu erwarten ist.
Die dargelegten Ideen stellen meine sehr persönliche Sichtweise dar, die (noch) nicht mit dem Vorstand der Gesellschaft für Phytotherapie abstimmt wurde.