Das Heilsystem der Traditionellen Europäischen Medizin / TEM
Ein Sammelbegriff für in Europa entstandene und wiederentdeckte naturgemäße Diagnose- und Anwendungsverfahren, die heute in aktualisierter Form alleinstehend oder komplementär in der Praxis zum Einsatz kommen.
Einführung:
Eigenständige Heilsysteme wie Ayurveda oder die Traditionelle Chinesische Medizin/TCM sind weltweit bekannt und sogar bei der Weltgesundheitsorganisation / WHO anerkannt. Diese Heilsysteme haben eine tausende von Jahren währende Vergangenheit und einen engen Bezug zu ihrer jeweiligen Kultur. Sowohl heute, als auch in Zukunft werden sie zur Gesundheitsförderung, zur Prävention und zur Behandlung von vielen Menschen weltweit genutzt. Auch im Europa der Regionen und der Nationalstaaten gibt es eine reiche und lange Historie verschiedener regionaler Verfahren und Methoden, die zum Heilsystem der Traditionellen Europäischen Medizin zusammengefasst werden können. Da sich im Laufe der Zeit aufgrund der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen in den Nationalstaaten Europas die unterschiedlichsten Bezeichnungen für die TEM herausgebildet haben, hier einige davon: Naturopatia, Hippocratic Medicine, TEN-Traditionelle Europäische Naturheilkunde, TEH-Traditionelle Europäische Heilkunde, Naturheilkunde, Abendländische Medizin, Mediteranian Medicine oder Naturopathy
Die Vorzeit:
Die Eismumie Ötzi vom Similaun-Gletscher zeigt, dass die Ursprünge der europäischen Medizin sehr weit zurückliegen: Ötzi hatte vor über 5000 Jahren einen Birkenporling als Heilpilz und weitere Heilpflanzen mit im Gepäck; er trug akupunkturähnliche Tattoos, genau auf wichtigen TEM-Reflexpunkten. In anderen Bereichen der TEM finden sich Spuren keltischer, germanischer oder altslawischer Heilkunst, die in der Volksmedizin über Jahrhunderte überlebt haben, bis zur Barockzeit und darüber hinaus. Allerdings wurde diese Heilkunde von schriftlosen Völkern und Gruppen gepflegt und über die Jahrhunderte vom Mainstream ins Abseits gedrängt, weswegen wir nur eine sehr eingeschränkte Kenntnis dieser Vor- oder Frühgeschichte der TEM und ihrem Weiterwirken durch die Jahrhunderte haben. Einige Inhalte der TEM gehen auf außereuropäische antike Hochkulturen zurück – so etwa bis ins Alte Ägypten oder nach Mesopotamien.
Die Antike:
Die TEM im eigentlichen Sinne darf man mit Hippokrates von Kos (ca. 460–370 v. Chr.) beginnen lassen. Die Neufassung der Medizin, die mit dem Namen Hippokrates verbunden ist, fand in der berühmten griechischen Textsammlung „Corpus Hippocraticum“ ihren schriftlichen Ausdruck. Kernaussagen sind hier eine „Säftelehre“ und die „Temperamente“. Die Heilkunde wurde von da an über Jahrhunderte in verschiedenen griechischen und römischen Schulen ausgestaltet und vom in Rom tätigen griechischen Arzt Galenos von Pergamon (ca. 129–225 n.Chr.) unter einem gemeinsamen Dach versöhnt und zusammengefasst.
Weil die hellenistisch-römische Kultur in der Völkerwanderungszeit in Westrom ins Hintertreffen geraten und zum größten Teil untergegangen ist, ergab sich für die TEM eine neue Situation: Die griechisch-römische Heilkunde blieb zwar in Städten wie Konstantinopel, Rom und vor allem auch in Klöstern lebendig; gleichzeitig sprang aber der Funke in den persisch-arabischen Kulturraum über, der die Führung in der Heilkunde übernahm.
Mittelalter:
Im Persischen Reich, und dort vor allem in Bagdad, wurde die griechisch-römische Medizin in einem Gemeinschaftsprojekt von Muslimen, Juden und Christen unter islamischer Schirmherrschaft ins Arabische übertragen, modernisiert und in übersichtlichen Handbüchern herausgegeben. Am bekanntesten ist der „Kanon der Medizin“ des persischen Arztes Ibn Sina (ca. 980–1037), lateinisch Avicenna. Sein Werk wurde im 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt und beeinflusste in den folgenden Jahrhunderten die Medizinausbildung in Europa.
Vom 6. bis zum 13.hrhundert ergab sich in Mitteleuropa eine spannende Situation der Wissenstransformation: Die Klostermedizin stand in höchster Blüte, daneben wurde die vorchristliche Volksmedizin weiterhin ausgeübt. Jetzt kamen die lateinischen Übersetzungen von Texten aus dem Osten hinzu und brachten einen Quantensprung des medizinischen Wissens. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Klostermedizin ist die Äbtissin Hildegard von Bingen (1089–1179), die Volksmedizin und Gelehrtenmedizin zusammenfasste. Weit weniger bekannt als Hildegard, aber nicht minder bedeutsam ist der Benediktinermönch Odo von Meung, der mit seinem Werk „Macer floridus“, das etwa um 1070 entstand, das wichtigste Heilpflanzenbuch der Klostermedizin verfasste.
Ein Sprung in Richtung Professionalisierung ereignete sich in Salerno. In dem Benediktinerpriorat, also eigentlich einem Ort der Klosterheilkunde, gründete man ab 1077 die erste medizinische Universität Europas. Im Gefolge begann an Standorten wie Montpellier, Bologna, Paris, Padua, Wien etc. die universitäre Medizin zu blühen. Für die Versorgung der breiten Bevölkerung blieb freilich die Volks- und Klostermedizin maßgeblich. Akademische Ärzte widmeten sich beinahe ausschließlich finanzkräftigen Patienten und hatten meist gut dotierte Posten im Bereich des öffentlichen Gesundheitsmanagements inne; die eigentliche Gesundheitssorge lag meist bei nicht-ärztlichen Laientherapeuten.
Renaissance und Aufklärung:
Eine wichtige Neuformation der Heilkunde unternahm der Universalgelehrte und Mediziner Paracelsus (ca. 1493–1541). Aus seiner Warte hatte sich der offizielle Medizinbetrieb von den Wurzeln der wahren Heilkunst weit entfernt und war zu einem bloß noch theoretischen und oberflächlichen Heilwissen verkommen. Die Wiederentdeckung der Hermetik, die Anbindung an die Astronomie und Astrologie führte zur All-Chemie und der Spagyrik. Hierzu zählen auch Schriften wie der „Glauberus Concentratus“ von Johann Georg Glauber (1603-1670) und „Die heilsame Dreck-Apotheke“ von Kristian Franz Paulini (1734).
Die Neuzeit:
Die von naturwissenschaftlichen Entdeckungen getragenen Neuaufbrüche (Zellularpathologie, Histologie, Physiologie, Chirurgie etc.) führten zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel und einer Spaltung in der Medizin; z.B. erkrankt die Zelle oder das Milieu (Virchow, Pasteur vs. Bechamp)? Eine mehr und mehr naturwissenschaftlich basierte Medizin entwickelte sich zur universitären Medizin (heute: Mainstream-Medicine, oder auch Evidenz-basierte Medizin), während die traditionelle Heilkunde den naturgemäßen und ganzheitlichen Anschauungen verbunden blieb und sich als Naturheilkunde definierte.
Zwei weitere eigenständige Heilsysteme entstanden: Die Homöopathie und die Anthroposophische Medizin. Zur Frage, ob diese Heilsysteme zur TEM zu rechnen sind, ist festzuhalten: Insofern diese Systeme eine Weiterentwicklung vormoderner Heiltraditionen Europas darstellen, müssen sie in einer Verbindung zur TEM gesehen werden. Insofern sich diese Heilsysteme als eigenständige Größen etablieren konnten und auch neue Elemente enthalten, die sich nicht an die älteren Traditionen anschließen lassen, steht nicht fest, dass sie zur Gänze unter den Dachbegriff TEM einzuordnen sind.
Die „neue“ TEM:
In diesen Zusammenhang darf man die Erfolgsgeschichten der Reformbewegungen mit Licht- und Lufttherapie, die Prießnitz und Kneipp-Verfahren, die F.X.-Mayr-Kur, die Hydro- und Balneotherapien, spagyrische Herstellungsverfahren und manuelle Methoden wie Massagetechniken und die Osteopathie stellen.
Im 20. Jahrhundert wurden von engagierten Ärzten, Naturärzten, deutschen Heilpraktikerin und engagierten Laien neue naturgemäße Methoden entwickelt oder neu gefasst: Die Ausleitungsverfahren und die Humoraltherapie, das System der Grundregulation, die Irisdiagnose und Komplexmittelhomöopathie, die Isopathie, die Neuraltherapie, die Ohrakupunktur, die Ernährungslehre, die Psychosomatik, die Elektroakupunktur, das Bioresonanzverfahren, die Kinesiologie, Bewegungslehre und Meditation, verschiedene Kunsttherapien und viele weitere. Besonders ist auch ab den 80.er Jahren der kulturelle Einfluss von anderen globalen Heilsystemen zu erwähnen.
Eine letzte Stufe der TEM wurde mit der Jahrtausendwende zum 21. Jahrhundert erreicht: Heute berücksichtigen und interessieren sich sowohl Laien wie Fachleute für die TEM als Ressource. Es geht vor allem darum, die nachweislich wirksamen und sicheren Elemente der TEM für die Gesundheitssorge zur Verfügung zu stellen. Die heutige TEM ist ein eigenständiges Heilsystem mit spezifischen Diagnosetechniken und einem breiten Spektrum von über achtzig naturgemäßen Methoden, die für sich alleine oder komplementär zur Mainstream-Medizin genutzt werden. Dabei steht der ganzheitliche Ansatz für Körper, Geist und Seele genauso im Vordergrund, wie die besondere Berücksichtigung des individuellen Zustandes von Grundregulation und Mikrobiologie.
Dieser höchst individuelle und komplexe Ansatz ist auch der Grund dafür, dass sich nur bedingt eine umfassende Studienlage erstellen lässt. Das aktuelle Studiendesign, welches „eine Leitsubstanz, eine spezifische Anwendung“ für „eine spezifische Indikation“ bei vielen Patienten über einen bestimmten Zeitraum zugrunde legt, und dies als „evidenz-basiert /EBM“ begreift, passt oft nicht zu einem traditionellem Heilsystem, bzw. lässt sich nur in Teilen umsetzen.
Die heutige TEM bietet für zahlreiche aktuelle Herausforderungen jetzt und in Zukunft eine Vielzahl von Möglichkeiten. Der zutiefst ganzheitliche Ansatz zeigt sich auch in der engen Verbindung mit der biologischen Landwirtschaft und den mittelständischen Herstellern von Heilmitteln. Aufgrund ihrer langen Tradition stellen die Methoden der TEM und ihr Heilwissen ein Immaterielles Kulturerbe dar, welches selbstbewusst einen Platz in der ersten Reihe globaler Heilsysteme einnimmt.